Die Nazis verfolgten und ermordeten nicht nur Juden, Sinti und Roma und Systemkritiker,
sondern auch Kranke und Menschen mit Behinderung. Sie hielten sie für "lebensunwertes
Leben", für "Parasiten am deutschen Volkskörper". Das Ermordungsprogramm wurde
verschleiernd und zynisch als "Euthanasie" (griechisch eu thánatos = guter Tod) bezeichnet
und lief unter dem Decknamen „Aktion T4“. T4 steht für die Tiergartenstraße 4 in Berlin. Hier
befand sich der Hauptsitz der Aktion.
Weitere Informationen u.a. auf der Website „Planet-Wissen“ von ARD, SWR und WDR.
Onlineaustellung zur Aktion T4: LINK
Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) zur Aktion T4: LINK
Zur Erinnerung an die Berger Bürgerin Emilie Deutering, die Opfer der Aktion T4 wurde, wird
auf Anregung der Initiative Stolpersteine Bergen-Enkheim ein Stolpersteine am 25.09.2023 in
der Markrtstr. 10 verlegt, Emilie Deutering wurde 1944 in Weilmünster ermordet.
Die Stolpersteine sind ein Projekt des Kölner Künstlers Gunter Demnig, mit dem er 1992
begonnen hat.
Inschrift des Stolpersteins
HIER WOHNTE
EMILIE DEURING
JG. 1902
EINGEWIESEN 1942
NERVENKLINIK FRANKFURT
VERLEGT 1942
‚HEILANSTALT‘ EICHBERG
VERLEGT 1943 WEILMÜNSTER
ERMORDET 14.5.1944
Information zur Anstalt in Weilmünster: LINK zum Gedenkort-T4 Weilmünster
Biographie
Emilie Wilhelmine Deuring wurde am 18.07.1902 in Bergen, Marktstraße 10, als Tochter von
Heinrich Hektor Deuring und seiner Ehefrau Bertha Deuring geb. Wiegand geboren. Emilie
Deuring hatte einen älteren Bruder, Friedrich Wilhelm Hektor Deuring, der im Jahr 1899
geboren wurde. Er hatte eine Ausbildung als Bäckermeister absolviert und kam am 3. April
1944 in Gorodenko/Estland im Alter von 45 Jahren im Rahmen von Kriegshandlungen ums
Leben.
Ihre Eltern betrieben in ihrem Wohn- und Geschäftshaus die Gastwirtschaft „Zum grünen
Wald“. Diese bestand bis in das Jahr 1959.
Emilie Deuring wurde am 16.01.1942 von Dr. A. Göbel in die Universitäts-Nervenklinik
Frankfurt eingewiesen, wo sie drei Monate lang verblieb. Am 14.04.1942 erfolgte ihre
„Verlegung“ in die Landesheilanstalt Eichberg bei Eltville. Die Landesheilanstalt Eltville war
ein Ort von NS-Massenverbrechen an Menschen mit Behinderung. Etwa 3000 Menschen,
darunter viele hundert aus dem Raum Frankfurt, wurden auf dem Eichberg Opfer der NS
„Euthanasie“. In der Anstalt, ursprünglich für die Unterbringung von rund 800 Patienten und
Patientinnen konzipiert, waren bis zu 1800 Menschen unter menschenunwürdigsten
Bedingungen untergebracht. Den Schutzbefohlenen wurde Nahrung, Pflege und medizinische
Versorgung absichtsvoll vorenthalten. Gemäß der Logik der NS „Rassenhygiene“ sollten die
Aufwendungen für Menschen, die aufgrund ihrer Behinderung als „minderwertig“ eingestuft
worden waren, auf ein absolutes Minimum reduziert werden. Die Versorgung und die
Wiederherstellung der Soldaten in Wehrmachtslazaretten wurden im NS-Staat unter den
Bedingungen des Krieges als prioritär eingestuft.
In den Patientenunterlagen ist der Schriftwechsel des Schwagers von Emilie Deuring
enthalten, der ihre Verlegung von der Universitäts-Nervenklinik Frankfurt in die
Landesheilanstalt Eichberg offenbar verhindern wollte und eine Rücküberweisung nach
Bergen beantragte. Mutmaßlich ist dies ein indirekter Hinweis auf das in der
Bevölkerung vorhandene Wissen um die Situation in der Anstalt Eltville und ein
Versuch, Emilie Deuring zu schützen.
Die Anstalt Eichberg war auch Durchgangsanstalt für den Weitertransport von Patienten und
Patientinnen in andere Anstalten, wie die Anstalt Weilmünster, in die Emilie Deuring am 13.
Oktober 1943 in einem Sammeltransport gebracht wurde. Ob die Angehörigen über diesen
Schritt informiert wurden, kann nicht in Erfahrung gebracht werden. Die für Emilie Deuring
angelegte Akte wurde, wie nahezu sämtliche Akten der Patienten und Patientinnen, um das
Jahr 1980 in der Heilanstalt Weilmünster unter der Trägerschaft des LWV Hessen vernichtet.
Die ehemalige Landesheilanstalt Weilmünster war spätestens seit dem Jahr 1938 eine
„Musteranstalt“ des Bezirksverbands Nassau. Das unter dem Einfluss des
Anstaltsdezernenten Fritz Bernotat dort verankerte Prinzip, wonach die Aufwendungen für
„Erbkranke (…) so niedrig zu halten sind, wie nur irgend möglich“ wurden in Weilmünster im
Sinne der NS-Ideologie brachial durchgesetzt. Dies hatte für die dort untergebrachten
Menschen schon lange vor dem offiziellen Beginn der NS-„Euthanasie“ fatale Folgen: die
systematische Mangelernährung, das Fehlen von medizinischem Personal und die
auch in Weilmünster praktizierte, massive Überbelegung führten seit dem Jahr 1937 zu
einer signifikanten Erhöhung der Sterblichkeit, die sich kontinuierlich bis zu 50% jährlich
steigerte. Im Jahr 1942 starben 733 von 1454, im Folgejahr 1943 689 von 1616, im Sterbejahr
von Emilie Deuring 736 von 1650 Anstaltsinsassen. Berichte über die erbärmlichen und
todbringenden Lebensumstände in der Anstalt Weilmünster verdeutlichen, dass der
überwiegende Anteil der dort zwangsweise untergebrachten Menschen an Hunger und
Vernachlässigung starb. Es gibt deutliche Hinweise, dass es in Weilmünster auch zu aktiven
Tötungen durch Verabreichung von Medikamenten gekommen ist.
Emilie Deuring soll am 14. Mai 1944 in Weilmünster an „Enteritis“ gestorben sein. Diese in den
Verzeichnissen der Anstalt Weilmünster überproportional häufig angegebene Todesursache
verweist indirekt auf die katastrophalen hygienischen Bedingungen, unter denen Emilie
Deuring untergebracht war.
Das in der Anstalt Weilmünster zum Teil noch lange nach Kriegsende tätige Personal leugnete
jegliche Beteiligung an den Verbrechen, verfasste gleichlautende Aussagen um sich zu
entlasten und blieb strafrechtlich unbehelligt. Nach Vorermittlungen der Staatsanwaltschaft
kam es zu keinem Prozess wegen der mehr als 3000 in Weilmünster gewaltsam zu Tode
gekommenen Schutzbefohlenen. „Tötungen in der LHA Weilmünster“, so die
Staatsanwaltschaft im Jahr 1949, seien „nicht zweifelsfrei feststellbar. Der Anstaltsdirektor Dr.
Ernst Schneider wurde im Jahr 1953 von der Staatsanwaltschaft Limburg „außer Verfolgung“
gesetzt. Er bezog bis zu seinem Lebensende eine auskömmliche Rente und lebte unbehelligt
in Weilmünster, während die Opfer bis zur ersten, von der Bürgerschaft angestoßenen
regionalen Aufarbeitung der NS-Massenverbrechen zu Beginn der 80er Jahre in
Vergessenheit gerieten. Seit dem Jahr 2023 erinnert ein virtuelles Gedenkbuch (www-
gedenkbuch-weilmuenster.de) an die in Weilmünster ermordeten Menschen und macht ihre
Namen wie auch ausgewählte Biografien bekannt.
Quellen und Literatur:
HHStAW Abt. 2072/2 3973
HStAM Best. 912 Nr. 7795
HHStAW Abt. 461 Nr. 32061
Horst Dickel: „Die sind ja doch alle unheilbar“ Zwangssterilisation und Tötung der
„Minderwertigen“ im Rheingau 1934-1945 (1988)
Heinz Faulstich: Hungersterben in der Psychiatrie 1914-1949. Mit einer Topographie der NS-
Psychiatrie (1988)
Peter Sandner: Verwaltung des Krankenmordes. Der Bezirksverband Nassau im
Nationalsozialismus (2003)
Peter Sandner: die Landesheilanstalt Weilmünster im Nationalsozialismus. In: 100 Jahre
Krankenhaus Weilmünster 1897-1997. Heilanstalt Sanatorium Kliniken, Hg. LWV Hessen
(1997) S. 121-164.
Christoph Schneider: Hadamar von innen. Überlebendenzeugnisse und
Angehörigenberichte (2020)
www.gedenkbuch-weilmuenster.de
Initiative Stolpersteine Bergen-Enkheim
Frankfurt am Main
Datum: 25.09.2023
Zeit: 16:05 Uhr
Ort: Marktstr. 10, Bergen
OpenStreetMap Mitwirkender: Ewald Wirth
Foto: Norbert Wied
Frankfurt – Bergen-Enkheim –
Marktstraße 10
In dem Gebäude war bis 1959 die
Gaststätte „Zum grünen Wald“;
der Eingang war früher über den
Zugang vom Hof aus.
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Verlegung eines Stolpersteins für Emilie Deuring,
Opfer der sog. „Euthanasie“ / „Aktion T4“